Heft 11

Schriften zur kulturhistorischen Psychologie

Editorial

Wir können in den letzten Jahren mit Blick auf die kultur-historischen Theorie eine stetig wachsende Vielfalt an Zugängen, Ansätzen und Interpretationen aus ganz verschiedenen inhaltlichen, regionalen (z.T. auch mit konkreten sozialen, politischen und ökonomischen Positionen verbundenen) Bereichen beobachten. Vor allem erfreut sich Vygotskij einer nicht nachlassenden Beliebtheit. In nahezu jedem modernen Aufsatz zu den Problemen Entwicklung und Unterricht, Lernen und Lehren, zum Sozialkonstruktivismus, zum Konzept der Ko-Konstruktion und nicht zuletzt zum aktuell intensiv beforschten und diskutierten Problem der Inklusion in Gesellschaft, Schule und Unterricht finden sich Aussagen (zum Beispiel zur Problematik sozio-kultureller Bedingungen psychischer Entwicklung, der Zonen der Entwicklung u.a.), die aus seinem Werk entnommen sind. Allerding erfolgt dies oft ohne die theoretische Einbettung in die kultur-historische Theorie, so dass im Einzelnen nicht mehr klar wird, was denn die eine oder andere Untersuchung, die sich einzelner Konzepte und Aspekte aus dem Werk Vygotskijs bedient, mit der kultur-historischen Schule oder dem Tätigkeitsansatz konkret zu tun hat.
Deshalb haben wir im Heft 10 dieses Journals dazu aufgerufen, methodologischen und theoretischen Grundfragen der kultur-historischen Schule und des Tätigkeitsansatzes (wieder) mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden. Denn es sollte nicht vergessen werden, dass es Vygotkij nicht einfach um die Erweiterung psychologischer Theorie seiner Zeit ging, sondern um das Umschreiben der Psychologie, um das Schreiben des „Kapitals der Psychologie“. Ohne Verständnis der methodologischen Grundlagen des historischen und dialektischen Materialismus von Marx ist der Zugang zu dieser Psychologie kaum möglich. Vor allem können ohne diese methodologischen Grundlagen weder die Tiefe und Tragfähigkeit der kultur-historischen Theorie erfasst, noch ihre erforderliche weitere Ausarbeitung adäquat vorgenommen werden.
Im Besonderen betrifft dies die Problematik der Inklusion. Hier rückt aus kultur-historischer Sicht die Teilnahme am gesellschaftlichen Verkehr als Hauptbedingung psychischer Entwicklung in das Zentrum: Werden Menschen wegen ihrer Besonderheiten aus der Gesellschaft ausgegrenzt, nimmt man ihnen die Möglichkeiten einer menschlichen psychischen Entwicklung oder schränkt sie stark ein. Die in der Gemeinschaft mit anderen Menschen vollzogene menschliche (gemeinsame) Tätigkeit, im Sinne der bewussten, intentionalen Gestaltung des (gesellschaftlichen) Lebens (Arbeit, Spiel, Lernen), erweist sich als wesentliche Ursache für die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und der Persönlichkeit.
Das Wesen gemeinsamer Tätigkeit von Menschen besteht darin, dass sie gemeinsame Ziele verfolgen, ihre individuelle Tätigkeit daher mit Blick auf diese gemeinsamen Ziele abstimmen und koordinieren – ein Gesamtsubjekt bilden. Je arbeitsteiliger vorgegangen wird, je individueller der Beitrag des Einzelnen, umso mehr er seine Stärken einbringen kann, umso größer muss das Ganze im Auge behalten, die Kooperation und Kommunikation entfaltet werden, damit die Schwächen des Einzelnen durch Stärken anderer kompensiert und die Einzelbeiträge zu einem funktionierenden Ganzen zusammengefügt werden können.
Im Rahmen gemeinsamer Tätigkeit, durch Kooperation und Kommunikation wird es möglich, individuelle Stärken, die jeder Einzelne hat, zu nutzen und gleichzeitig seine Schwächen zu kompensieren.
Mit Blick auf Schule und Unterricht kann Inklusion, behalten wir die oben entwickelte Perspektive bei, nicht nur individuelles Potenzial bei den Schüler/innen erschließen, sondern stärkt gleichzeitig die Klassengemeinschaft, sodass jeder Schüler davon profitiert – und dies in den Facetten von Lernbesonderheiten bedingt durch Geschlecht, sprachlichen, kulturellen, sozialen Hintergrund, Lernvoraussetzungen und besonderen Lernbedingungen, personalen Erfahrungen usf. Pädagogisch bedeutet daher Inklusion Vielfalt/ Heterogenität willkommen zu heißen und in der Unterschiedlichkeit der Kinder die anerkennenswerte Normalität zu sehen. Die Differenz zwischen den Kindern steht nicht der Gleichheit konflikthaft entgegen, sondern gehört untrennbar zum Gedanken der Gleichheit dazu. Gleichheit bedeutet dann, in der Unterschiedlichkeit bzw. Differenz einander gleich zu sein. Im Gegenschluss bedeutet es, jeder Aussonderung, Ausgrenzung und damit jeder Ungleichbehandlung entgegenzutreten.
Wolfgang Jantzen übernimmt in seinen Texten die oben angemahnte Aufgabe und bearbeitet sowohl methodologische und theoretische Grundfragen der kultur-historischen Theorie und des Tätigkeitsansatzes sowie aktuelle psychologische Grundlagenprobleme und entwickelt auf dieser Basis Grundpositionen einer dem Inklusionsgedanken verpflichteten modernen Behindertenpädagogik. Wir danken für die Überlassung des copyright seiner Arbeiten.

Georg Rückriem und Hartmut Giest

Die komplette Ausgabe als PDF-Datei

Inhalt

 


 

  • Abstracts 7
  • Alexandr R. Lurija und die Theorie funktioneller Systeme 13
  • Methodologische Aspekte der Behindertenpädagogik als synthetische Humanwissenschaft 33
  • Behinderung, Identität und Entwicklung – Humanwissenschaftliche Grundlagen eines Neuverständnisses von Resilienz und Integration 63
  • Methodologische Aspekte der Konstruktion einer kulturhistorischen Entwicklungstheorie im Rahmen eines spinozanischen Programms der Psychologie 93
  • Methodologische Grundfragen der kulturhistorischen Neuropsychologie 109
  • Das Unsichtbare sichtbar machen – Für eine Psychologie der Prozesse statt der Dinge 139
  • Das Leib-Seele-Problem 167
  • Autonomie – nichts anderes als eine große Illusion? Zu den Implikationen der aktuellen Diskussionen in den Neurowissenschaften 195
  • Author 220

Zurück zur Übersicht

Neuerscheinungen

Marion Wüchner-Fuchs

Wüchner-Fuchs Lernorte - CoverLernorte. Eine subjekt- orientierte Erschließung (International Cultural-historical Human Sciences, hrsg. von T. Hoffmann, J. Steffens, Bd. 60)

Berlin, 2023. XIII, 404 S.; Broschur

weiter lesen

Florian Grams & Ilka Hoffmann (Hrsg.)

Grams & Hoffmann 2022 - Cover"Sich vor niemandem bücken – höchstens um ihm aufzuhelfen" Zum Gedenken an Wolfgang Jantzen

(International Cultural-historical Human Sciences, hrsg. von W. Jantzen ✝︎, T. Hoffmann, J. Steffens, Sonderband)

Berlin, 2022. 136 S.; Broschur

weiter lesen

Wolfgang Jantzen

Geschichte, Pädagogik und Psychologie der geistigen Behinderung

(International Cultural-historical Human Sciences, hrsg. von W. Jantzen, T. Hoffmann, J. Steffens, Bd. 58)

Berlin, 2020. 372 S.; Broschur

weiter lesen